Das Anna-Karenina-Prinzip

Ein ganz schöner Wälzer, aber ein großartiges Buch. Durch das ein oder andere Kapitel muss man sich ganz schön durchkämpfen. Die endlosen Seiten von Lewin, der übers Feld schreitet - das hat schon seine Längen. Aber es ist Anna-Karenina. Was will man sagen. Ich mag das Tragische, das Leidenschaftliche. Anna-Karenina ist Tragik und Leidenschaft pur.

Und kaum ein erster Satz der Weltliteratur ist so treffend und macht so nachdenklich wie der aus Tolstois Anna-Karenina.

Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.
— Anna-Karenina, Tolstoi

Wikipedia beschreibt es als allgemeines Prinzip, nach dem mehrere Faktoren oder Bedingungen zum Gelingen einer Sache erfüllt sein müssen und das Fehlen eines einzelnen Faktors zum Scheitern oder Ausschluss führt.

Während für eine glückliche Familie viele Faktoren (sexuelle Anziehung, Geldfragen, Kindererziehung, Religion, Schwiegereltern) stimmen müssen, braucht bei einer unglücklichen Familie nur einer dieser Faktoren nicht zu stimmen. Aber ist das tatsächlich so? Kann eine einzige Sache das Glück einer Familie kosten?

Zu kaum einer anderen Jahreszeit kommen Familien-Dynamiken so zum Vorschein, wie rund um Weihnachten. Selten wird so viel Wert auf Altes, Traditionelles gelegt. Beisammensein, Gemeinschaft, Familie das klingt alles so idyllisch. In der Realität zofft man sich nie so sehr wie unterm Weihnachtsbaum. Außer man macht es wie wir, da sind unterm Baum alle so bedüdelt, dass es zum Streiten nicht mehr kommt. Davor und danach ja, aber am 24. ist meist Ruhe.

Die Menschen die wir lieben sind die, über die wir uns oft am meisten ärgern. Warum das so ist? Weil wir sie eben lieben. Würden wir sie nicht lieben, würden sie uns auch nicht so aufregen, denn dann wäre es uns egal, was sie sagen oder nicht sagen. Paradox oder? Aber so sind Familien nunmal. Da geht es nicht rational zu. Familie hat immer mit Emotion zu tun, mit Prägungen, zugeteilten und selbst gewählten Rollen, Verhaltensmustern, die ewig, ewig und noch länger bestehen. Schuld zu suchen oder sein Unglück jemandem zuzuschreiben ist da fast lächerlich. Denn die Alten haben es von noch älteren erfahren. Und macht nicht jeder immer so gut wie er eben kann?

“Muster brechen!”

Würde eine alte Freundin jetzt sagen. “Es geht immer ums Muster brechen.” Aber dazu ein ander Mal.

Wenn mir die Familie so richtig auf den Geist geht, dann schließ ich die Augen und stelle mir vor, sie wären morgen nicht mehr da. Keine Sekunde vergeht dann und da ist nur noch Liebe.

Was den Familiensegen zu Weihnachten betrifft: Vielleicht einfach mal nicht perfekt sein. Perfekte Familien sind sowieso dubios! Und langweilig obendrein.

Anna Karenina ist eine tragische Figur - eine Frau, die am Druck der (damaligen) gesellschaftlichen Konventionen zugrunde geht. Dann doch lieber Chaos-Familie, bisl Streit hier, bisl gekränkter Stolz da, Hauptsache es wird kommuniziert. Und Reibung ist nicht immer das Schlechteste.

Der letze Satz in Tolstois Werk lautet übrigens so:

"Aber mein Leben, jeder Augenblick dieses Lebens, was auch immer in Zukunft mit mir geschehen wird, wird nicht mehr sinnlos und vergeblich sein wie bisher; es hat einen unbezweifelbaren Sinn bekommen: er liegt in dem Guten, das ich in jeden Augenblick meines Daseins hineinzulegen vermag."

title.jpg

Frohe Weihnachten!

Alles wird gut.


Anna Hacker