Vom ersten Schrei bis zum letzten Atemzug

Der Atem begleitet uns ein Leben lang. Vom ersten Schrei bis zum letzten Atemzug steht er für Anfang und Ende unseres Lebens. Wir können einige Zeit ohne Nahrung, Wasser und Licht überleben – aber nur wenige Minuten ohne Luft.

Vielleicht ist das der Grund, warum Menschen immer schon fasziniert waren von der Atmung. Ägyptische Grabinschriften preisen die „Heilkunst mit dem Atem“. Und seit 3000 Jahren ist die Atmung eine der wichtigsten Säulen des Yoga.

So du zerstreut bist, lerne, auf den Atem zu achten
— Buddha
 

Was passiert wenn wir atmen?

Wir atmen ein, wir atmen aus – dieser Vorgang wiederholt sich bei einem erwachsenen Menschen etwa 20 000 mal am Tag und das ein ganzes Leben lang. 12 - 15 Atemzüge pro Minute. Wir müssen nichts dafür tun und merke es nicht mal, aber Atmung ist in Wahrheit ein HOCHKOMPLEXER VORGANG.

Jeder Muskel, jedes Organ und jede einzelne Zelle unseres Körpers braucht Sauerstoff, um funktionsfähig zu bleiben. Beim Einatmen gelangt die Luft durch den Mund („Mundatmung“) oder durch die Nase („Nasenatmung“) über die Luftröhre in die Luftwege (Bronchien) der Lunge und leitet so den lebenswichtigen Sauerstoff Blutkreislauf und der sich so im ganzen Körper verteilt. Beim Ausatmen wird im Gegenzug „verbrauchte“ kohlendioxidreiche Luft abgegeben. 

Die Strukturen des Körpers, die direkt am Luftaustausch der Atemgase Sauerstoff (O2) und Kohlendioxid (CO2)   beteiligt sind, bezeichnet man als Atmungsorgane, Atemwege, Atmungsapparat oder respiratorisches System. Wie gesagt ein komplexer Vorgang, an den viele Strukturen und Organe im Körper beteiligt sind.

Wer steuert unseren Atem?

GESTEUERT WIRD UNSERE ATMUNG VOM GEHIRN

Für die Steuerung der Atmung ist der Kohlendioxidgehalt am wichtigsten: Wenn zu viel CO2 im Blut vorhanden ist, erhöht das Atemzentrum die Atemfrequenz und das überschüssige Kohlendioxid kann über die Lungenbläschen verstärkt an die Atemluft abgegeben werden. Umgekehrt wird bei zu geringer CO2-Konzentration die Atemfrequenz reduziert.

Wie ein Seismograf registriert das Nervensystem Bewegungen und Gefühle und passt die Atmung an, je nach Energiebedarf. Bei körperlicher Anstrengung oder Angst beschleunigt sich die Atmung. Sie kann bei einem Schreck aussetzen. Sie wird langsamer, wenn wir uns entspannen oder schlafen.

Die Sprache hat für diese Zusammenhänge unzählige Bilder geschaffen. Es verschlägt einem vor Schreck den Atem, etwas ist atemraubend schön, jemand hat keine Zeit zum Luftholen oder eben einen langen Atem.

Und obwohl die Atmung eine sogenannte autonome Grundfunktion des Körpers ist – wie auch unser Herzschlag oder die Verdauung –, kann sie zumindest teilweise willentlich beeinflusst werden. Der Atem schlägt also eine Brücke, weil er willkürlich beeinflusst, was sonst unwillkürlich geschieht.

Atem und Yoga

Wir atmen meist, ohne darüber nachzudenken. Doch wenn wir lernen, das Luftholen bewusst zu steuern, kann der Atem Körper und Geist heilen.

Ein ruhiger Atem beruhigt Körper und Geist. Menschen wissen das intuitiv und nutzen das schon lange. Im rhythmischen Gebet des Rosenkranzes, bei der Wiederholung eines Mantras im Hinduismus, beim Singen eines Wiegenliedes.

Die Atmung ist also ein hocheffektives Kommunikationsmittel zwischen Körper und Geist – und zwar eines, das wir kontrollieren können! Und genau das nutzen wir im Yoga (Sanskrit - EINHEIT- again). Durch ruhiges, bewusstes Atmen, weiß der Körper, alles ist gut, er weiß 'ich bin im Hier und im Jetzt'. Und diesen Zustand nutzen wir im Yoga. Der Atem dient uns als Anker - geistig wie auch physisch. Wenn du dich auf deine Atmung konzentrierst vergisst du alles um dich herum. 

Der Atem begleitet uns durch eine Yogaklasse in Form der Yogaatmung Ujaii aber darüber hinaus auch in Form von gezielten Atemübungen - Pranayama und Kriyas.

Prana

Wörtlich übersetzt bedeutet Prana "Hervor-Atem" (Pra-Ana) und bedeutet Atem, Leben, Seele, LebenskraftAls PRANA bezeichnen Yogis unsere Lebensenergie, die durch den Körper fließt. Prana bezeichnet zwar auch die physische Atemluft, im Yoga und auch im Ayurveda, der Schwesternschule des Yoga aber gilt Prana als die den Körper durchdringenden kosmischen Energien, den Lebensatem. Prana erhält damit den Körper und ist am deutlichsten über den Atem erlebbar.

Pranayama

Pranayama - „Prana“ heißt Energie, Lebensenergie, „Ayama“ bedeutet „Kontrolle“. Mithilfe der Atemübungen lernen wir, unseren Atem wieder bewusst wahrzunehmen und zu steuern – und so unsere Lebensenergie zu aktivieren und zum Fließen zu bringen.

Die wichtigsten Pranayama Übungen

1. Bauchatmung

Die Bauchatmung bildet die Basis der Atmung. Du musst nur mal bewusst eine Hand auf Deinem Bauch platzieren und beobachten, wie sich mit jeder Einatmung die Bauchdecke hebt und mit der Ausatmung wieder senkt.

2. Vollständige Yoga-Atmung

Vollständiger Yoga Atem bedeutet, dass du die Lungen vollständig füllst beim Einatmen, und vollständig leerst beim Ausatmen.

So gehts:

  • Du atmest vollständig aus.

  • Dann atmest du ein, der Bauch hebt sich, der Brustkorb weitet sich und du schickst den Atem auch seitlich in die Rippenbögen

  • zuletzt wird auch das Schlüsselbein leicht nach vorne und oben gebracht.

  • Beim Ausatmen nimmst du den selben Weg zurück - senkst das Schlüsselbein, dann den Brustkorb, die Flanken gehen etwas nach innen, und atmest vollständig aus bis auch der Bauch sich wieder senkt.

3. Ujjayi

Die ozeanische Atmung wird sie genannt, weil sie ein sanftes Rauschen in der Kehle verursacht. Wärmende Atmung wird sie genannt, weil sie Agni, das innere Fuer, aktiviert. Und für viele Yogis ist sie das wichtigste Instrument zur Bündelung ihrer Konzentration. Ujjayi ist eine der wichtigsten und am weitesten verbreiteten Atemübungen, weil sie in dynamischen Yogastilen wie Ashtanga und Power Yoga während der kompletten Asana-Praxis praktiziert wird.

So gehts:

  • Stell Dir vor, Du willst einen Spiegel befeuchten und hauchst dagegen. Nutze dazu gerne Deine Handfläche um es Dir besser vorzustellen.

  • Diese Atmung durch die Kehle behälst Du bei, schließt dabei aber den Mund.

  • So entsteht ein leises Rauschen beim Ein- und Austmen.

  • Du kannst Dir auch vorstellen, den Buchstaben “H” mit geschlossenem Mund zu hachen.

4. Nadi Shodhana – Wechselatmung

Bei der Wechselatmung wird durch ein Nasenloch eingeatmet und durch das andere Nasenloch ausgeatmet – so werden die linke und die rechte Seite des Körpers und des Gehirns energetisch wieder in Harmonie gebracht.  

So gehts:

  • Finde einen bequemen, aufrechten Sitz

  • Die linke Hand liegt auf dem Knie, mit der rechten Hand formen wir das Vishnu-Mudra.

  • Nach einer langen Ausatmung halten wir mit dem rechten Daumen das rechte Nasenloch zu. Der Ellbogen befindet sich nah am Körper, damit der Arm nicht so schnell ermüdet. 4. Einatmung durch die linke Nasenöffnung (4 Takte, d.h. bis vier zählen). 5. Beide Nasengänge sanft schliessen, Atempause (bis ca. 16 Takte). 6. Daumen von der rechten Nasenöffnung lösen und durch das rechte Nasenloch ausatmen (8 Takte). 7. Dann folgt die Einatmung durch das rechte Nasenloch, Atempause, Ausatmung links, gefolgt von der Einatmung links usw

5. Bhramari, das Bienensummen

Bhramari, die Bienenatmung, ist eine der effektivsten Atemtechniken im Yoga, um den Geist zu beruhigen und soll Dich von Wut, Angst, Stress und Frustration befreien.

Der Name Bhramari stammt von einer schwarzen, indischen Bienenart. Im Sanskrit bedeutet das Adjektiv bhamarin außerdem so viel wie “süß wie Honig” oder “entzücken”, diese Wortbedeutung weist auf die Wirkung der Atemtechnik hin. Denn der Geist wird beruhigt, die Technik wirkt auf das Gehirn so entspannend und süß wie Honig.

So gehts:

  • Finde einen bequemen, aufrechten Sitz

  • Verschließe mit den Daumen die Ohren, lege die Zeigefinger sanft über die Augen, die Mittelfingerkuppen seitlich an die Nasenflügel, die Ringfinger auf die Oberlippe und die kleinen Finger auf die Unterlippe. Diese Handhaltung (= Mudra) wird „Das Verschließen der sieben Pforten” oder auch „Shanmukti Mudra” genannt.

  • Atme ruhig und tief, aber summe wie eine Biene während des Ausatmens.

  • Lege beim Summen die Lippen nur leicht aufeinander, und entspanne deinen gesamten Mundraum.

  • Beende die Übung, wenn du merkst, dass deine Arme müde werden. Lege dann die Hände zurück auf die Knie oder in den Schoß, und spüre noch eine Weile mit geschlossenen Augen die Vibration im Körper.

6. Sitali

Im Sommer ist die Sitali-Atmung eine wahre Wohltat – sie wirkt kühlend. Außerdem beruhigt sie außer Kontrolle geratene Energien und reduziert den Appetit.

So gehts:

  • Atme mit gerollter Zunge (die Zunge steht wie ein Rohr leicht aus dem Mund hinaus) mit einem Zischlaut ein und über die Nase aus.

7. Kapalabhati (auch Schädelleuchten oder Feueratmung bekannt)

Kapalabhati ist eine stark aktivierende und entgiftende Atemübung, die angeblich auch das Bauchfett zum Schmelzen bringt. Durch das stoßweise schnelle Atmen gelangt viel Sauerstoff ins Blut. Die heftige Ausatmung mit Unterstützung der Bauchmuskeln entleert die Lunge vollständig und hilft dem Körper dabei, über den Atem zu entgiften – und trainiert gleichzeitig die aktiven Bauchmuskeln! Deshalb sollten Schwangere kein Kapalabahti üben.

So gehts:

  • Finde einen bequemen, aufrechten Sitz und schließe Deine Augen

  • Um die Wirkung der Atemtechnik besser spüren zu können, kannst Du eine Hand auf Deinen Bauch legen.

  • Atme nun tief und langsam durch beide Nasenlöcher ein, bis Deine Lungen vollständig mit Luft gefüllt sind.

  • Jetzt atmest Du mit Nachdruck durch die Nase aus. Stelle Dir vor, wie die Luft aus Deinem gesamten Bauch entweicht. Fast so als würdest Du Dich schnäuzen.

  • Während des Ausatmens erzeugst Du ein zischendes Geräusch. Stelle Dir dabei vor, wie die Energie aus Deiner Nase herausströmt.

  • Diese Atemübung wiederholst Du insgesamt 20 mal, der gesamte Vorgang sollte in etwa 5 Minuten dauern.

  • Bleibe nach der Atemübung noch etwas mit geschlossenen Augen sitzen, um Dich zu entspannen.

8. Pranayama Kumbhaka

Bei der Kumbhaka-Atmung wird das Einatmen als Empfangen von Energie empfunden und das Ausatmen als Loslassen. Dabei entstehen ganz natürliche Atempausen, die sehr ausgleichend wirken.

Man unterscheidet

  • Bahya Kumbhaka – Kumbhaka nach vollständiger Ausatmung

  • Antara Kumbhaka – Kumbhaka nach vollständiger Einatmung

Warum wir im Yoga durch die Nase atmen

  • Die Nasenatmung hat den Vorteil, dass die eingeatmete Luft durch die Härchen und Schleimhäute in der Nase gereinigt, angefeuchtet und angewärmt wird.

  • Nasenatmung soll außerdem im Vergleich zur Mundatmung zu einer um 10-15 % höheren Sauerstoffsättigung des Blutes führen. Das soll auf eine physiologische Reaktion von Stickstoffmonoxid NO (nitrix oxide) zurückzuführen sein, das in den Nasennebenhöhlen gebildet und durch die Nasenatmung mit in die Lungen transportiert wird.

  • Einer guten Stickstoffmonoxid-Versorgung werden zahlreiche Vorteile nachgesagt: 

    • Verbesserung des Nervensystems und der Verdauung

    • Förderung des Immunsystems

    • Förderung des Gehirns

    • NO wirkt gefäßerweiternd

    • NO senkt nachts den Blutdruck

    • NO spielt eine wichtige Rolle bei der Übertragung der Nervenimpulse

  • Nasenatmung aktiviert unseren Parasympathikus, also den Teil unseres Gehirns, der fürs Chillen zuständig ist.

  • Unser wird Atem ganz automatisch feiner und langsamer, wenn wir durch die Nase atmen. Das lässt unseren Geist ausgeglichener werden. Yogis sagen auch: Die Nase nimmt das Prana aus der Luft auf.

Warum hat Pranayama einen so starken Effekt auf Körper und Geist?

Die Wirkung von Pranayama erklärt sich hauptsächlich durch die Wirkung des Atems auf das Nervensystem, vor allem den Sympathikus und den Parasympathikus:

Ausgleichende und beruhigende Atemübungen legen den Fokus auf eine lange Ausatmung. Diese aktiviert den Parasympathikus, den Teil unseres Nervensystems, dessen Aktivierung unter anderem den Blutdruck und die Herzfrequenz absenkt. Ist der Parasympathikus aktiv, sind wir entspannt und der Körper kann regenerieren und heilen. 

Aktivierende, anregende Atemübungen dagegen legen den Fokus auf die Einatmung und aktivieren so den Sympathikus, der Blutdruck und Herzfrequenz erhöht und uns wach und leistungsfähig macht.


Dont overdo it

Fortgeschrittene Pranayama-Techniken und solche, die stark aktivieren wie Kapalabhati, sollten nur von geübten Yogis unter kompetenter Anweisung eines Lehrers praktiziert werden – es kann sonst zu Kreislaufproblemen, leichtem Schwindel bis hin zu Übelkeit und Ohnmacht, Schwitzen und Zittern kommen.

Es muss auch nicht viel sein. Sanfte, einfache Atemübungen wie Bhramari und Sitali sind für fast alle geeignet und haben bereits große Wirkung.

Bei allen Atemübungen gilt: Der Atem sollte frei fließen und ohne Druck und Ehrgeiz kontrolliert werden. Wenn sich die Muskeln des Atemapparats und/oder die umliegenden Bereiche verspannen oder wenn du nach dem Atem anhalten hörbar nach Luft schnappst, solltest du die Übung entweder achtsam beenden oder die Intensität reduzieren. Sobald nämlich zu viel Druck auf den Atemapparat kommt, hat Pranayama keinen positiven Effekt mehr, sondern sorgt nur für einen noch verspanntere, noch unnatürlichere Atmung – und hat damit eher negative Wirkung auf Psyche und Körper.

Apropos unnatürliche Atmung - DIE PARADOXE ATMUNG

Beobachte deinen Atem. Schließ deine Augen und nimm bewusst ein paar Atemzüge ein und aus durch dich Nase. Und dann beobachte die Bewegung deines Körpers mit der Atmung.

Vielleicht merkst du, wie mit der Einatmung Bauch und Brustkorb weit werden und sich aufblähen. Bei der Ausatmung fällt alles wieder in sich zusammen.

Bei der paradoxen Atmung passiert genau das Gegenteil.  Bei der Einatmung zieht sich der Brustkorb zusammen un der Bauch wölbt ich vor. Bei der Ausatmung dehnt sich der Brustkorb aus und der Bauch sinkt ein. Funktionell bedeutet die inverse Atmung einen Atemstillstand, die Lunge wird nicht belüftet. 

Anna Hacker